Mittwoch, 6. November 2013

Cahlenberg

Eine neue Lektüre liegt auf meinem Nachttisch. Ein Zufallskauf in Berlin in der wunderschönen Buchhandlung Fürst und Iven am Savignyplatz. Beim Stöbern durch die Regale bin ich über den als Landkarte gestalteten Buchrücken gestolpert und ein paar Seiten angelesen. Der Rhythmus des Buches gefiel mir spontan. Mir war da noch nicht sofort bewusst, einen Roman gekauft zu haben, der in den 80ern der DDR spielt.
Mit der DDR verbinde ich keine persönlichen Erfahrungen, das Leben dort ist mir nur aus Erzählungen, Filmen oder anderen Berichten bekannt. Auch aus Besuchen in der Nachwendezeit, als der Unterschied zwischen Ost und West noch richtig spürbar war. Ich muß bei der Sprache des Buches unwillkürlich an diejenige von Günter Grass‘ „Ein weites Feld“ denken oder an Martin Walser in „Finks Krieg“. Es liegen erst einige Seiten Lektüre hinter mir, doch zieht mich die Story in ihren Bann und ich tauche ein in eine Zeit und einen Raum von der bleierner Gräue. Aus der heutigen Perspektive betrachtet wird einem die enorme politische Brisanz mancher Formulierungen bewusst. Der Text ist noch zu Zeiten der DDR entstanden, wurde jedoch erst 1994 veröffentlicht. Cahlenberg, der Ort als Metapher einer Utopie eines menschlicheren Sozialismus, einer Gesellschaftsform, die dem Menschen Raum zum Atmen lässt, aber auch eine umfassende Kritik an den Irrungen und Wirrungen der Nachwendezeit.
Schon auf der ersten Seite findet sich eine Passage, die wie ein Fanal den Untergang der DDR ankündigt: „Cahlenberg zwölf Kilometer. Er sei gefahren wie der Teufel. Mindestens zehn Kilometer. Und auf einmal sei er wieder auf einen Wegweiser gestoßen. Cahlenberg einundzwanzig Kilometer [...] Je weiter er gefahren sei, um so weiter habe er sich offensichtlich von Cahlenberg entfernt“.

Die Sprache des Buches wird zunehmend rasanter und bedrückender, nimmt einem stellenweise den Atem. Einige Traumszenen wirken nicht nur surrealistisch, in ihnen zeigt sich vor allem die Angst des Erzählers vor den massiven Umweltverschmutzungen, die in der DDR an der Tagesordnung waren. Es kann so nicht weitergehen mit dem Arbeiter- und Bauernstaat. Journalisten stürzen sich reihenweise aus dem Fenster, weil sie nicht das veröffentlichen dürfen, was sie gerne würden. "Die Zeit ist noch nicht reif für so etwas. So weit sind wir noch nicht." 
Aber man kann trotzdem spüren, daß es unter der von den Mächtigen wohlbehüteten Bettdecke brodelt: Immer mehr Menschen verschwinden plötzlich. Sie machen "rüber" oder sich auf den Weg nach Cahlenberg. Dieser Verlust an Menschen führt auch dazu, daß der Theaterintendant Clawohn das Stück "Romeo und Julia" nicht in der gewohnten Weise besetzen kann: statt eines jungen Paares muß er auf fast siebzigjährige Schauspieler zurückgreifen. Was im Westen als innovatives Theaterkonzept durchgehen könnte, ist dort blanker Notwendigkeit geschuldet. 
Immer weiter schiebt der Autor den Höhepunkt des Romans weiter hinaus, den einzigen Satz, den Rochhausen der Schweiger, in diesem Jahr gesagt hat. Die Ankündigung des Satzes läuft wie ein Running Gag durch das Buch, erst ganz zum Schluß kommt es zur Offenbarung: Es ist alles ganz anders

Hätte dieses Buch zu Zeiten der DDR veröffentlicht werden können und dürfen? Nein, wahrscheinlich nicht, eben weil "die Zeit noch nicht reif für so etwas" war. Die Notwendigkeit, an so etwas wie Cahlenberg zu glauben, war sicherlich da. Auch wenn der Autor zeigt, daß es doch keine wirkliche Idylle gewesen wäre. Völlig zurück zur Natur - es ist nicht möglich.

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